Ein Gespräch über Herausforderungen und Chancen, Erreichbarkeit und Beteiligung von Eltern in Armutslagen im zweiten Pandemiejahr. Im Gespräch mit: Mandy Raabe, Elternbegleiterin an der Kita Ramlerstraße in Berlin Gesundbrunnen, Wedding und Géraldine Rennert, Elternbegleiterin an der Theodor-Storm-Grundschule am Hermannplatz, Neukölln, beide beschäftigt bei der Arbeiterwohlfahrt Berlin Kreisverband Südost e.V.

Wir stellen uns in unserem Projekt MitWirkung – Perspektiven für Familien immer wieder dieselben Fragen, allen voran: „Was kommt tatsächlich bei Familien an?” und “Wer sagt eigentlich, was gut ist?“ Durch unsere Arbeit mit vielen engagierten Fachkräften haben wir schon eine gute Vorstellung davon, dass die Antworten auf diese Frage nur sein können: „Deutlich zu wenig!“ und „Die Familien selbst, natürlich!“ Wenn es darum geht, Familien in belastenden Lebenssituation zu erreichen und auch genauer auf ihren tatsächlichen Bedarf zu schauen, fällt auf, dass sie kaum zu Wort kommen, Beteiligung an vielen Stellen nicht stattfindet, gerade dort, wo sie besonders wichtig wäre – z.B. in Kita und Schule. Das Thema „Schwer erreichbare Zielgruppen” ist seit vielen Jahren Thema und Herausforderung für Fachkräfte. Nicht nur in Zeiten von Corona lässt sich diese schwere Erreichbarkeit in beide Richtungen lesen…  Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und etwas auszuprobieren, mit Menschen, die sich auskennen mit guten Verbindungen zwischen Eltern und Fachkräften.

Gemeinsam mit Elternbegleiterinnen aus dem Projekt „Elternbegleitung“ der AWO Berlin Kreisverband Südost e.V. planten wir einen partizipativen Forschungs- und Begegnungstag (Structured Interview Matrix, kurz SIM) mit Familien: in Einzel- und Gruppengesprächen sollte es darum, wie es ihnen geht, wie sie ihre Situation im Kontext Kita und Schule erleben, welche Unterstützung sie benötigen und welche sie bekommen. Mit Familien sprechen, nicht über sie. Die Ergebnisse weitertragen und den Stimmen Gehör verleihen.

Wie schnell der Versuch der Beteiligung an den Rahmenbedingungen scheitern kann (in diesem Fall waren es die stark angestiegenen Inzidenzen im Herbst 2021), mussten wir dann sehr ungern einsehen und den geplanten Termin unserer SIM auf das Frühjahr 2022 vertagen. Aber abwarten, bis die Pandemie Familienbeteiligung zulässt, kann keine Alternative sein. Was stattdessen? Zusammen mit den Elternbegleiter*innen entwickelten wir andere Ideen: Einerseits konnte eine digitale Fokusgruppe mit den Elternbegleitungen über die derzeitige Lage stattfinden, anderseits wurden und werden Dialogspaziergänge mit Familien durchgeführt, im 1:1 Gespräch, coronagerecht an der frischen Luft. Die Ergebnisse fließen in unsere weitere Arbeit im Projekt ein und helfen uns auch unsere politischen Ziele der Prävention von Kinder- und Familienarmut und Armutsfolgen besser und mit Nachdruck zu adressieren.

Und hier der erste Streich: Ein Einblick in die Arbeit der Elternbegleiterinnen Géraldine Rennert und Mandy Raabe

Die beiden Elternbegleiterinnen wurden durch das Programm Elternchance* qualifiziert, Eltern und Kinder aus sozialräumlich benachteiligten Kiezen zu unterstützen. Sie gestalten niedrigschwellige Begegnungs- und Bildungsangebote, begleiten Eltern zu Gesprächen in und auch außerhalb von Kita und Schule und stärken Erziehungspartnerschaften zwischen Eltern, Lehrkräften und Fachpersonal. Ihre Haltung dabei ist transparent und dialogisch. Wir fragen sie nach ihrer Einschätzung, wie geht es Familien in Armutslagen im zweiten Pandemiejahr? Welche Unterstützung kommt an, welche Herausforderungen sehen sie, welche Chancen sehen sie?

Als wäre die Beteiligung von Familien, insbesondere in sozial belastenden Situationen, nicht ohnehin ein Dauerbrenner in der sozialpädagogischen Arbeit, hat die Pandemie die Herausforderungen nochmal größer gemacht. Soweit leider nichts Neues. Einig sind sich beide Elternbegleiterinnen darin, dass Beteiligung dann gelingen kann, wenn eine persönliche, vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden kann. Und ohne Kontakt ist das nicht möglich.

Es würde aber lediglich ein Bruchteil der Eltern erreicht, als einzige Elternbegleitung an einer Kita mit 180 Kindern ist der Handlungsspielraum begrenzt. Der persönliche Kontakt über Telefon funktioniere beispielsweise gut, aber alle Sorgeberechtigten wöchentlich durchzutelefonieren ist nicht realistisch. Manchmal scheitere es aber auch daran, dass keine aktuellen Kontaktdaten vorliegen. Dazu kommt, dass die Hemmschwelle Hilfe anzunehmen, bei vielen sehr hoch sei darum bedarf es mehr als nur einer Strategie um sie zu überwinden. Neben dem Abbau von Ängsten „Die wollen mir nichts Böses“ kommen weitere Hürden, ausreichende Endgeräte, stabile Internetverbindung etc. um Angebote auch digital stattfinden zu lassen. Werden es aber zu viele Hürden, gehen auf dem Weg wieder gerade die verloren, die Unterstützung gut gebrauchen könnten.

Welche Strategien verfolgen die Elternbegleiter*innen aktuell, um die Eltern zu erreichen?

Dranbleiben und immer wieder neue Wege probieren: Ein Teewagen vor der Kita für den persönlichen Kontakt, Schlüsselpersonen, die als vertrauensbildende Brückenbauer*innen agieren, WhatsApp statt Zoom, Handzettel und immer wieder neu überlegen und flexibel bleiben. Elternbegleitung braucht Ruhe und Zeit, fußt auf Beziehungen, die nicht nebenbei aufgebaut werden können. „Es ist ein professionelles Durchgewurschtel. (…) In den Verbänden und überhaupt wird sehr intensiv über das Thema Erreichbarkeit von Familien gesprochen. Alle beschäftigen sich damit, alle sind da dran. Das Beste ist es, alle Wege zu probieren“ so Mandy Raabe.

Herausforderung Digitalität

Es scheint doch so einfach und sogar niedrigschwellig, Angebote ins Digitale zu verlegen. Endgeräte, Sprache, Know How im Umgang mit Online-Meetings müssen aber beachtet werden. Die Frustration sei vorprogrammiert, wenn bei der ersten Zoom-Zusammenkunft Bild und Ton Ärger machen, die Kachel plötzlich schwarz ist und dann lässt man es doch bleiben. Deshalb ist es umso wichtiger und es kann gelingen, dass ein geschützter Rahmen entstehen und digitale Beteiligung auch niedrigschwellig möglich ist, es vielleicht auch ok ist, erstmal die Kamera auszulassen und nur mal zuzuschauen. Was im Bildungsbürger*innentum unproblematisch ist, da genügend Endgeräte und entsprechend großer Wohnraum vorhanden ist, lässt sich nicht einfach übertragen. Aber Pauschalisieren und Zuschreibungen helfen hier eben auch nicht weiter, Medienkompetenz und Zugangsvoraussetzungen haben nicht unbedingt mit sozialer Lage zu tun. „Es kommt eben darauf an“, damit auch digitale Angebote wahrgenommen werden, braucht es auch die persönliche Ebene, Willen und Bereitschaft Unterstützung anzunehmen und das fällt viel leichter, wenn der Kontakt schon besteht oder zumindest eine persönliche Empfehlung vorhanden ist.

Gute Angebote leben von der Beteiligung und dem Austausch mit denen, für die sie unterstützend wirken sollen – Also ist die wichtigste Frage nicht „Was braucht es, damit Menschen an den Angeboten partizipieren können“, sondern vielmehr „Welches Angebot braucht es denn überhaupt? Welche Unterstützung ist gewünscht und hilft tatsächlich weiter?“

Auch wenn die Erkenntnisse sicherlich nicht neu sind, so sind sie doch aktueller denn je. Welche Belastungen und Krisen, psychische und physische Entwicklungsstörungen die Pandemie bei Kindern und Jugendlichen ausgelöst hat, lässt sich noch nicht abschätzen. Ausgefallene Einschulungs-untersuchungen, daraus resultierend schon eingeschulte und später zurückgestellte Kinder, die dann keinen Kita-Platz mehr bekommen haben, sind hoffentlich die Ausnahme, die Folgen nicht greifbar.

Gerade jetzt erforderlich: Armutssensibilität

Klar ist aber, dass armutssensibles reflektiertes Handeln gerade im Bereich Schule und Kita essenziell ist. Hier entsteht aus einem unbedachten Engagement von Lehrkräften auch (ungewollt) Stress für Familien: „Druckt das Arbeitsblatt farbig in A3 aus. Besorgt Euch diese (Marken-)Stifte.“ Dieses ist nicht nur, aber eben besonders für Familien in Armutslagen herausfordernd. Zurückmelden würden sie dies aber in der Regel nicht an die Schule, das sei ein großes Problem. Armutssensibilität von Fachkräften bedeutet auch genau das: sich bewusst zu machen, dass man selbst aus der eigenen Lebensrealität die Perspektive und Stigma von Familien und Kindern in Armutslagen nicht kennen kann – und sich auch nicht unbedingt genau vorstellen kann, welche Ausgrenzung Familien und Kinder in Armutslagen erleben. Professionelles Handeln setzt genau hier an.

„Mit der Gießkanne arbeiten, damit überall Tröpfchen ankommen“

Es gibt keine einfache Lösung, digitale Formate erreichen einige, nicht alle. Armutssensibilität, persönliche Kontakte, Menschlichkeit – engagierte Fachkräfte, die immer wieder neu schauen und flexibel bleiben – das nehmen wir heute mit und bleiben am Thema und bedanken uns herzlich für den Einblick in die Erfahrungen aus dem Projekt Elternchance.

*Ein Programm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, angeboten von dem Trägerkonsortium bestehend aus folgenden Trägern der Familienbildung, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (AWO), Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung e.V. (AKF), evangelische Arbeitsgemeinschaft familie e.V. (eaf), Deutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung e.V. (DEAE), Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft für Einrichtungen der Familienbildung, Paritätisches Bildungswerk Bundesverband