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Rückblick auf die Erkundungsaufstellung mit Dr. Andrea Berreth am 12. September 2022
Wie können wir die Ambivalenzen nutzen, die sich rund um das Thema Kinderarmut aufbauen, um die Prozesse im Sinne der Gesamtstädtischen Strategie gut zu begleiten?
Mit dieser Frage haben wir uns als Team MitWirkung – unterstützt von vielen Kolleg*innen – einmal in einer anderen Form beschäftigt: mit einer Erkundungsaufstellung. Wir wollten dadurch einen Punkt beleuchten, der uns in unserer Arbeit immer wieder beschäftigt, aber schwer ansprechbar ist. Wir stellen nämlich fest: Die Haltung und der Umgang von Fachkräften aus unterschiedlichen Professionen mit Kinder- und Familienarmut sind ambivalent. Zwar sprechen sich alle gegen Kinderarmut aus (Wer kann schon dafür sein?), doch kaum jemand fühlt sich dafür verantwortlich bzw. sieht den eigenen Handlungs- und Gestaltungsspielraum in der eigenen Funktion und Rolle. Es ist ein schmerzhaftes und unangenehmes Thema, das als strukturell bedingtes Thema auch mit Macht und Privilegien verhaftet ist. Menschen, die nicht betroffen sind, so wie wir auch, können es ignorieren oder sehen gar (bewusst oder unbewusst) die Schuld bei den Betroffenen. Wie können wir diese Ambivalenz nutzen und mehr Menschen in einen aktiven Einsatz gegen Armut bringen?
Zur Erforschung dieser zentralen Frage haben wir Dr. Andrea Berreth eingeladen, systemische Beraterin und Coach. Sie arbeitet bereits seit einigen Jahren mit systemischen Aufstellungen, auch im Bereich von gesellschaftlichen Transformationen. Unser Anliegen haben wir mit ihr als Erkundungsaufstellung bearbeitet, einer Methode der qualitativen Forschung, die von dem Professor für Nachhaltiges Management der Universität Bremen Georg Müller-Christ entwickelt wurde.
Aufstellungen werden in der systemischen Arbeit häufig genutzt. Sie helfen, Zusammenhänge zu verstehen, andere Erfahrungen zu erleben und ungewohnte Perspektiven einzunehmen. In unserem Fall stellten wir sogar doppelt verdeckt auf – und die Magie begann.
Doppelt verdeckt, was bedeutet das?
Keine der beteiligten Personen wusste, mit welcher Frage wir uns beschäftigten. Vermittelt wurde nur, dass es um gesellschaftliche Veränderungsprozesse gehen sollte. Ebenso unbekannt war den Teilnehmenden, welche Rolle sie selbst in der Aufstellung einnahmen. Und dennoch war zu beobachten, dass sie als Stellvertreter*innen gesellschaftlicher Positionen miteinander in Kontakt traten, dass Reibungen und Verbindungen entstanden. Als Gesamtgruppe haben wir das Geschehen ausgewertet und über unsere Beobachtungen gesprochen.
Aufgestellte Rollen waren zum Beispiel:
- Die Eltern (von Armut betroffen)
- Die Kinder
- Die Mittelschicht
- Die Politik
- Die Fachkräfte
Aber wie funktioniert das?
Aufstellungen geben keinen Aufschluss über die „Wirklichkeit“, sie geben Aufschluss darüber, wie unser Verhältnis, unsere Haltungen zu Personen oder Situationen sind.
Was sich gezeigt hat, war verblüffend und berührend, drastisch und deutlich – und hat uns in vielfältiger Weise Anregungen für unsere weitere Arbeit gegeben. Als Team MitWirkung nehmen wir lösungsorientierte Impulse mit: Was ist Gutes an dem, was sich gezeigt hat – und wie können wir das für unsere weitere Arbeit nutzen?
Es war also sehr wirkungsvoll, aber: Wie kann das überhaupt funktionieren, wenn die Stellvertreter*innen weder ihre Rolle noch die Fragestellung kennen?
Über diese und andere Fragen haben wir im Anschluss mit Andrea Berreth gesprochen. Wir danken Andrea Berreth sehr herzlich für die inspirierende Zusammenarbeit!
Gespräch mit Dr. Andrea Berreth
Dr. Andrea Berreth, Systemische Beraterin und Coach (Foto: privat)
Wie bist du selbst zur Aufstellungsarbeit gekommen?
Das ist schon 22 Jahre her. Ich habe am Rande meines Studiums der Angewandten Kulturwissenschaften an einem Wochenendseminar „Aufstellungsarbeit“ teilgenommen.
Nach dem Wochenende war für mich die Frage „Kann das funktionieren?“ beantwortet, weil ich immer wieder erlebt habe, dass ich als Stellvertreterin stimmig handle in einem System, das ich gar nicht kenne. Relativ schnell dachte ich: Dazu will ich wissenschaftlich arbeiten, eine Magisterarbeit schreiben.
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive habe ich gefragt: Das ist eine Praktik – es wird gemacht, und Menschen erleben es als hilfreich. Warum tun das die Leute? Wieso ist es für sie hilfreich? Das war später auch Teil meiner Dissertation: Wieso lassen sich Firmen mit der Methode der Organisationsaufstellung beraten? Was erleben sie dabei als hilfreich?
Eine Erkenntnis meiner Doktorarbeit „Organisationsaufstellung und Management“ war dann, dass über Aufstellungen eine neue Art des Darüberredens möglich ist. Teams kommen auf Grundlage eines gemeinsamen Bildes ihrer Wirklichkeit ins Gespräch und entwickeln Handlungsalternativen. Und dies ist etwas, was als sehr hilfreich erlebt wird.
Das ist relevant für jede Art von Bildungs- oder Begleitungsarbeit: Wie können wir neue Arten finden, miteinander zu reden?
Genau. Ein Thema im Rahmen der Fallstudie, die ich für meine Dissertation durchgeführt habe, war auch das Lernen „Zweiter Ordnung“, wie es Gregory Bateson genannt hat. Also nicht nur im gleichen Gleis weiterfahren und mehr desselben lernen, sondern das Neue in die Welt kommen lassen. Was braucht das System neben Anschlussfähigkeit und Bestätigung? Wir brauchen ein gutes Gleichgewicht zwischen Bestätigung und Irritation. Wenn das Irritierende nicht auftaucht, dann bleiben wir in dem, was wir schon kennen, verhaftet. Professor Müller-Christ fragt mit Hilfe von Erkundungsaufstellungen immer wieder: Wie können wir dieses Neue in die Welt kommen lassen, wie können wir dieses Irritierende zulassen? Sein Ansatz ist: Wir wissen, dass verdecktes Aufstellen funktioniert, dann lasst es uns mal doppelt verdeckt tun.
Was sind denn typische Kontexte für verdeckte Aufstellungen?
Ich erlebe die Methode vor allem bei Themen hilfreich, die uns alle betreffen, also politischen Themen, Nachhaltigkeitsthemen, zu denen wir alle eine Meinung oder eine Betroffenheit haben. Wenn wir verdeckt aufstellen, können wir nicht zurückgreifen auf das, was wir wissen, denken und meinen.
In dem Kreis des Aufstellungsworkshops bei MitWirkung waren Expert*innen anwesend, die allein über ihre Expertise ganz viel zum Thema hätten sagen können – und das haben sie ja dann auch, in der Auswertungsrunde. Aber in der Datenerhebungsrunde hat erstmal niemand gewusst, worum es eigentlich geht.
Georg Müller-Christ spricht hier von der Intuition II. Wir müssen auf ein Wissen zugreifen, von dem wir nicht wissen, woher es kommt – ein Wissen, das nicht in unserem Gehirn gespeichert ist, sondern in einer Art universellem Energiefeld
Heißt das, dass in einer doppelt-verdeckten Aufstellung Vorurteile und Vorannahmen ausgeschaltet werden können?
In einer doppelt-verdeckten Aufstellung ist das Vorwissen sozusagen ausgeschaltet. Dadurch wird es einfacher, sich auf die repräsentierende Wahrnehmung zu konzentrieren, auf dieses klare Gefühl: Ich will da weg. Ich will da hin. Wenn die Eltern in einer offenen Aufstellung das Gefühl gehabt hätten: Ich will weg von den Kindern, dann hätte es vielleicht eine innere Instanz gegeben, die gesagt hätte: Nein, das darfst du nicht.
Aus konstruktivistischer Sicht können wir sagen: Wir kreieren unsere Wirklichkeit. Du betrachtest eine Beziehung in diesem Moment auf die und die Art. Über eine Aufstellung kannst du zu einem neuen Bild der Wirklichkeit gelangen und ausprobieren: Wie wäre das? Und du trägst dieses neue Bild in die Wirklichkeit mit. Wenn du auf deine Wirklichkeit mit anderen Augen schaust und annimmst, Begegnung ist möglich, Beziehung ist möglich – dann lass dich überraschen, wie sich das in der Wirklichkeit ausdrücken wird.
Das ist ein sehr ermutigender und bestärkender Ansatz.
Ich blicke mit anderen Augen, ich werde achtsam dafür: Wie binde ich ein, wie schließe ich vielleicht unbewusst aus, und mache das ab heute anders. Von diesen Beispielen habe ich ganz viele erleben dürfen. Ich würde immer sagen: Halte die Deutung offen, es ist nicht nur das eine, das du gesehen hast. Lade den neuen Blick ein, den du als hilfreich, als unterstützend erlebst. Und schau, wie du diesen Blick noch stärker in den Alltag tragen könntest, wie du anders reagieren kannst, um das, was du gesehen hast, Wirklichkeit werden zu lassen.
Was waren für dich zentrale Wahrnehmungen in dem Prozess mit uns?
Das eine war natürlich die Rolle des Projektes MitWirkung. Hier hat die Stellvertreterin die meiste Zeit aus dem System herausgeblickt, auf etwas Außenliegendes. Ich habe das als eine kraftvolle Position erlebt, anders zu sein als der Rest des Systems. Und ich hatte die Frage: Wie könnte das Projekt MitWirkung das außen Gesehene gut nach innentragen und hier anbieten?
Ich fand auch die Rolle der Kinder sehr bemerkenswert. In der Aufstellung gab es oft Bezug auf die Kinder, und auch die Kinder haben gesprochen, haben agiert. Ich habe mich dabei ertappt, dass ich die These hatte: Alles muss über die Kinder laufen. Die Eltern müssen über die Kinder einbezogen werden. Die Fachkräfte müssen über die Kinder agieren. Dann habe ich bemerkt: Ich wäre versucht, den Kindern ganz viel zuzumuten, und eigentlich sind sie ja die Schwächsten und die Vulnerabelsten. Was kann man ihnen gut an die Seite stellen? Wie kann man diese Kinder gut unterstützen? Die naheliegendste Unterstützung wäre ja, ihnen die Eltern an die Seite zu stellen.
Und dann war in der Aufstellung eine starke Emotionalität bei den Eltern zu sehen. Wie kann man gut sichtbar machen, welche wertvolle Arbeit sie leisten – sichtbar machen, dass sie als Eltern für die Kinder da sind? Wie kann man sie jenseits der Zuschreibung als arme Eltern in ihren Kompetenzen zeigen? Da habe ich Bilder, wie man eine gute Art von Elternschaft und Begleitung auch in den Medien zeigen könnte, zum Beispiel über eine konstruktive Berichterstattung.
Was mich bei der Arbeit mit euch besonders berührt hat: Wie im Rahmen des Aufstellungsworkshops Verbindung und Verbundenheit passierte, obwohl gerade diese Qualität im aufgestellten System so sehr zu fehlen scheint.
Liebe Andrea Berreth, vielen Dank für das Gespräch!