Damit alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Lage in Wohlergehen aufwachsen können, braucht es viele Köpfe, Hände und Herzen. Die Berliner Strategie macht das Engagement all dieser einzelnen Akteur*innen sichtbar und führt sie zusammen.

Eine zentrale Rolle spielt in den Bezirken das Jugendamt. Hier finden sich die Jugend- und Familienförderung, der Bereich der Kita und Tagespflege, die Schulsozialarbeit und weitere Angebote, die Chancengerechtigkeit fördern können.

Wir freuen uns daher sehr, dass Rainer Zeddies, der Leiter des Jugendamtes in Berlin-Lichtenberg, uns für ein Interview zur Verfügung stand.

Er hat seine Perspektive auf die Berliner Strategie und den bisherigen Prozess mit uns geteilt. Wir haben wichtige Anregungen erhalten, worauf wir in der Kommunikation achten sollten und wo aussichtsreiche Anhaltspunkte für die weitere Arbeit liegen.

Das Interview fand im Februar 2025 im Jugendamt in Hohenschönhausen statt und wurde gemeinsam mit der bezirklichen Beauftragten für Kinderarmutsprävention, Sarah Wendler, geführt.

Es war ein ehrliches und vertrauensvolles Gespräch, das uns als Prozessbegleitung wertvolle Anregungen gegeben hat. Es ist uns schwergefallen, den Text zu kürzen – und wir bedanken uns noch einmal herzlich für das offene Gespräch!


Sarah Wendler: Lichtenberg arbeitet seit 2019 an der bezirklichen Kinderarmutspräventionsstrategie. Was ist aus Ihrer Perspektive als Mitgestalter und Jugendamtsleiter in diesen sechs Jahren erreicht worden? 

Rainer Zeddies: Aus meiner Sicht ist einiges erreicht worden. Auf der „Graswurzel-Ebene“ haben Sie mit den Sachmitteln kleine Projekte in die Welt gepflanzt, wie etwa im letzten Jahr das Ferienschwimmen. So haben Kinder schwimmen gelernt, die es sonst vielleicht nicht gelernt hätten.

Noch wichtiger ist aber die Ebene der gesamtstädtischen Planung. Das Jugendamt hat jeden Tag damit zu tun, armutsbetroffene Familien zu unterstützen, damit sie weniger beeinträchtigt werden. In der Jugendhilfe sichern wir mit Unterhaltsvorschuss und Elterngeld, aber auch mit Kitaplätzen Teilhabe, gerade für die, die kein Geld haben. Aber wir haben auch ein Stadtentwicklungsamt, ein Natur- und Grünflächenamt. In allen Ämtern sitzen Akteure, die Belange von Familien berühren und das sehen müssen.

Das Lichtenberger Konzept und der Lichtenberger Kinderarmutsbericht gehen Schritte in diese Richtung: Alle müssen lernen, auf dem Schirm zu haben, dass Familien unterschiedlich sind und dass die Armutsbelastung eine wichtige Kategorie ist, wenn man Dinge verändert, die Familien betreffen. Darum finde ich den ressortübergreifenden Ansatz besonders wichtig. Es ist gut, sich unterzuhaken.

Ich wünsche mir, dass Sie weiterhin uns und die anderen Ressorts in einer Tour „nerven“ und erinnern, dass das, was Sie da tun, relevant ist.

MitWirkung: Sie haben die Graswurzel-Ebene erwähnt. Warum ist das wichtig und was können wir da bewegen?

Rainer Zeddies: Wir haben gelernt, keine riesigen Räder zu drehen, sondern kleine Maßnahmen auf die Straße zu bekommen. Und darin müssen wir noch genauer werden, hinschauen und lernen: Profitieren von dem Projekt armutsbelastete Familien stärker als andere? Es ist wichtig, dass genau die Kinder schwimmen lernen, die es sonst nicht gelernt hätten. Wir werden die Familien bei der Nutzung von Angeboten nicht fragen, wie viel sie verdienen. Wir müssen uns aber z.B. mit Sozialstrukturdaten Rechenschaft darüber ablegen, ob die Maßnahmen zielgenau sind.

MitWirkung: Sie sagten, es ist wichtig, alle Ressorts einzubeziehen: Können Sie in dieser Hinsicht schon eine Veränderung bemerken?

Rainer Zeddies: Ich sehe, dass es unterdessen eine Offenheit gibt. Wenn wir einen Park umgestalten, dann müssen wir natürlich gucken: Wer ist denn in diesem Park unterwegs? Wen wollen wir stärken? Ich habe den Eindruck, dass da eine Sensibilität wächst.

Ein Beispiel für die ressortübergreifende Zusammenarbeit: Wir ringen mit dem Wohnungsamt darum, ob wir eine Tagespflegestelle einrichten, für die wir Wohnraum zweckentfremden müssen. Wohnungen zu sichern UND eine Tagespflegestelle vorzuhalten, sind beides gesetzliche Aufträge und es gilt, Kompromisse zu suchen. Das gilt dort besonders dort, wo wir armutsgefährdete Familien kennen.

MitWirkung: Der Schulterschluss ist das eine. Der zweite starke Fokus der Berliner Strategie ist die Armutssensibilität. Wie wichtig finden Sie es, zu sensibilisieren? Würden Sie sagen, im Jugendamt sind alle sensibel für das Thema?

Rainer Zeddies: Ich halte es für richtig, dass die Armutssensibilisierung einen hohen Stellenwert in der Strategie hat. Lichtenberg hat ein Nord-Süd-Gefälle, was Armutsfragen betrifft, und ein Gefälle hat Berlin als Stadt erst recht. Insofern ist für die einen Mitarbeitenden jeder Tag geprägt von Menschen, die von Transferleistungen leben, und andere müssen genauer hingucken, um das zu sehen.

MitWirkung: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für ein Gelingen der Berliner Strategie?

Rainer Zeddies: Sie müssen damit rechnen, dass Sie an vielen Stellen auf überlastete Systeme treffen. Amtsleitungen stellen sich auch schützend vor die Ressourcen und sagen: „Hier kommt ihr nicht ran.“ Dann geht es nur über Inhalte und über eine gute Kommunikation. Dazu gehört sowohl Bündnisse zu schmieden als auch nach vorn zu gehen. Sie sollten auf die Bereiche zugehen, indem Sie wertschätzen, was dort schon Gutes in Richtung Armutsprävention gemacht wird und wie groß die Landschaft aller Beteiligten ist. Und nicht die Armutsprävention als etwas Neues, Zusätzliches einführen, was Sie erfunden haben.

MitWirkung: Die Strategie ist in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie angesiedelt. Was wären Ihre Wünsche an die Senatsverwaltung(en)?

Rainer Zeddies: Ich wünschte mir, dass die Sozialverwaltung, SenASGIVA, sich stärker verantwortlich fühlt. Ich finde es zu kurz gedacht, Armutsfolgenprävention nur auf der Jugendseite zu sehen, denn es hat mit dem Familieneinkommen zu tun. Und das Familieneinkommen ist das Einkommen, das stark von Sozialleistungen abhängt, die die ASGIVA steuert. Ich würde es gut finden, sie stärker einzubinden. Eine gemeinsame Berichterstattung der Jugend- und der Sozialverwaltung über die Armutslagen von Familien und das, was wir dagegen unternehmen, wäre ein guter Anfang!

MitWirkung: Das Jugendamt ist nicht allein zuständig für die Kinder, Jugendlichen und Familien. Und genauso ist es nicht eine einzelne Senatsverwaltung, sondern es betrifft alle Ressorts – Kultur, Teilhabe, Sport, …?

Rainer Zeddies: Sport ist ein tolles Beispiel. Was wir da für eine großartige Ressource haben! Da passiert vieles, das wir sichtbar machen könnten. Die sozialpolitische Idee des Bildungs- und Teilhabepakets ist mühsam in der Umsetzung. Aber es ist wichtig, dass die Kids im Sportverein ankommen können. Da müssen wir uns unterhaken, auch gesamtstädtisch.

MitWirkung: Beim BuT oder auch beim Schulessen können wir uns nicht mehr damit abfinden, im Kreis der Zuständigkeiten umher geschickt zu werden. Wie kommen wir weg von der Zuständigkeit zur gemeinsamen Verantwortung?

Rainer Zeddies: Das BuT ist nicht richtig gemacht, und deswegen wird es nicht so wirksam, wie es sein müsste. Es könnte wirksamer werden. Das muss aber an den Bund adressiert sein.

MitWirkung: Herzlichen Dank für das Gespräch!