Wer unsere Arbeit im Projekt MitWirkung – Perspektiven für Familien verfolgt, hat mitbekommen, dass wir einen partizipativen Forschungs- und Begegnungstag mit armutsbetroffenen Eltern von Kita- und Schulkindern geplant hatten. Pandemiebedingt wurde das Vorhaben mehrfach verschoben. Wir haben stattdessen gemeinsam mit den Elternbegleiterinnen der AWO Berlin Kreisverband Südost e.V. anderes zum Thema umgesetzt, wie eine Fokusgruppe und Dialogspaziergänge. Hier geht es zur Dokumentation.

Aber jetzt: Im Mai 2022 haben wir einen neuen Versuch der Beteiligung gewagt und hatten Erfolg. Ein toller Tag des Austauschs und der Begegnung hat stattgefunden und wir könnten nicht begeisterter sein über die positiven Eindrücke, die Offenheit, das Vertrauen der Menschen, die unserem Aufruf gefolgt sind, als Expert*innen ihrer Lebenssituation in den Austausch zu gehen. Es braucht viel Mut, um sich offen über die eigene Armutsbetroffenheit auszutauschen, so dass wir uns noch einmal besonders bei den Teilnehmenden dafür bedanken wollten!

Aber der Reihe nach

Warum wollten wir mit Armutsbetroffenen sprechen? In unserem Projekt MitWirkung – Perspektiven für Familien verstehen wir uns als Lobbyistinnen für Menschen in Armutslagen, das heißt, wir reden viel über Armutsbetroffenheit und die Auswirkungen, allerdings viel zu wenig mit Betroffenen. Das geht nicht nur uns so, sondern ist eine der zentralen Herausforderungen von (sozialer) Arbeit: die Beteiligung von vulnerablen Gruppen –oder wie leider so häufig auch genannt, „die schwer Erreichbaren“. Eine selbsterfüllende Prophezeiung?

Die Beteiligung von Menschen „aus der Zielgruppe“ ist nicht nur ein „nice to have“, sondern das zentrale Gelingenskriterium für wirkungsvolle Angebote und oft sogar rechtlich verankert. Es sollte also selbstverständlich sein, Beteiligungsformate umsetzen. Dass dem nicht so ist, ist ein Problem und das P-Wort schwebt fast wie ein Damoklesschwert über uns Fachkräften.

Was gibt es für Hemmnisse, um offen über Betroffenheit von Armut zu sprechen? Vorurteile, Scham, Sprachbarrieren, unspezifische Angebote – die Hürden sind zweifelsohne vorhanden, und zwar auf allen Seiten – aber um gerade von dieser „die“ und „wir“- Haltung wegzukommen, braucht es Beteiligungsprozesse.

Natürlich sind auch wir genau in dieser Schleife gefangen: Gemeinsam mit den Elternbegleitungen der AWO Berlin Kreisverband Südost e.V. haben wir unseren „Tag des Austausches“ lange geplant: Wen können wir ansprechen und wie? Wir drehten selbstreflexive Diskussionsschleifen über unsere eigenen Privilegien und Machtpositionen: Sind wir ein Team aus weißen Akademiker*innen, die sich nun aufmachen, eine unbekannte Spezies auszuhorchen? Wir wollten alles richtig machen und niemanden vor den Kopf zu stoßen, auf keinen Fall paternalistisch zu sein. Ja, das ist eine überspitzte Darstellung -wenn auch nicht so sehr. Dies war unsere erste Erkenntnis: dass dies auch etwas schräg ist und Ausdruck davon, wie schwierig Begegnungen zwischen Menschen zu sein scheinen.

Selbstreflexion darf nicht als Selbstzweck stehen bleiben, sondern muss zu einem neuen Lernen und (reflektierten) Handeln anregen! Dieses kann und wird nicht perfekt sein, aber ein Versuch, etwas anders zu machen und aus einem Pilotprojekt hilfreiche Erkenntnisse zu ziehen. Diese Erfahrungen möchten wir teilen.

Beziehung als Schlüssel und Hürden durch Sprache sind als Faktoren bekannt und so konnten in den letzten Jahren Ansätze etabliert werden, die als Brücke zwischen Fachkräften und Eltern wirken: Mit den engagierten Elternbegleiter*innen und Koordinator*innen der Berliner Stadtteilmütter konnte unsere Einladung zum Tag des Austauschs verbreitet werden. Recht schnell bekamen wir positive Rückmeldungen, Interesse war vorhanden. Uns war sehr wichtig, dass der Tag des Austausches einen Nutzen für alle Teilnehmenden hat. So haben wir angeboten, die geplante Zeit, die während des Forschungstags aufgewendet, auch entsprechend zu vergüten, ein Gelingenskriterium für die Beteiligung.

Arm oder Fachkraft?

Rund 25 Frauen sind unserem Aufruf gefolgt und waren bereit, über ihr eigenes Armutserleben, die Situation ihrer Kinder in der Kita und Schule zu sprechen. Ein großer Erfolg, denn noch einen Tag vor der Veranstaltung war es unklar, ob wir zu dritt oder zu 30 sein würden. Direkt zum Thema Armutssensibilität einsteigen konnten wir bei der Begrüßung und der Zuordnung als Teilnehmende oder Unterstützerin: Armut ist oft nicht sichtbar und kann sich hervorragend verstecken. Da wir die meisten Teilnehmerinnen noch nie gesehen hatten, stand daher direkt bei der Rollenverteilung auch dieser Elefant im Raum: Arm oder Fachkraft? Diese Hemmungen konnten wir durch transparente Ansprache überwinden und mit einem Kaffee in der Hand mit der Vorstellungsrunde in den Tag zu starten.

Durch die engagierte Unterstützung der Stadtteilmütter und der Elternbegleiter*innen entstand eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre, in der wir uns kennenlernen, unser Projekt, unsere Ziele und Beweggründe erläutern und die, zumindest in der Theorie, nicht ganz leicht zu verstehende Methode für den Tag zu erläutern konnten.

Zur Methode

Wir hatten uns entschieden, das Format einer Structured Interview Matrix (SIM) auszuprobieren. Ein Verfahren, welches durch eine ausgeklügelte Abfolge aus Interviews zu zweit, Kleingruppen und Plenum alle Teilnehmer*innen im Laufe des Tages miteinander ins Gespräch bringt. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier.

Die Gruppe wurde in vier Farben eingeteilt, jeder Farbe lag eine andere Fragestellung zugrunde, die wir möglichst verständlich und anregend formuliert hatten.

  1. Phase: 1zu1-Gespräche, bei der sich die Mitglieder der Gruppen gegenseitig befragen. (ein Mitglied der Gruppe blau befragt ein Mitglied der Farbe Grün, usw.) und dabei die Antworten notieren.
  2. Phase: Die Mitglieder der Farbgruppen besprechen ihre gesammelten Antworten innerhalb der Gruppe, und ergänzen durch ihre eigene Perspektive.
  3. Phase: Alle Teilnehmer*innen tragen im Plenum die wesentlichen Erkenntnisse zusammen.
  • Gruppe 1: Die Schule und die Kita sind Orte für alle Kinder. Alle Kinder sollen leben und lernen. Egal, wie viel Geld die Familien haben. Sie sind eine Woche lang die Schulleiterin oder der Schulleiter von einer Schule ihrer Kinder oder der Kita ihrer Kinder. Sie dürfen alles bestimmen. Was tun Sie, damit es allen Kindern und Eltern gut geht?
  • Gruppe 2: Es ist wichtig, dass Schule und Eltern gut miteinander sprechen. Alle möchten, dass es den Kindern gut geht! Sprechen Sie mit den Lehrerinnen und Lehrern aus der Schule? Oder den Erzieherinnen und Erziehern aus der Kita? Ist das gut? Fühlen Sie sich wohl? Sie sind die Eltern. Sie kennen Ihre Kinder. Was möchten Sie den Lehrerinnen und Lehrern sagen? Was möchten Sie den Erzieherinnen und Erziehern sagen? Was möchten Sie lieber nicht sagen? / Was ist schwer zu sagen? Wo bekommen Sie Unterstützung? Zum Beispiel für Klassenfahrten, Bücher, Sportverein?
  • Gruppe 3: Die Schule ist ein Ort für alle Kinder. Aber nicht allen Kindern geht es gleich gut. Manche Familien haben wenig Geld. Wann ist das in der Schule/Kita ein Problem? Manchen Eltern fehlt der Mut. Für manche Eltern ist es schwer mit Lehrerinnen oder Lehrern zu sprechen. Wie geht es Ihnen? Wie kann es einfacher werden, mit den Lehrerinnen und Lehrern zu sprechen? Welche Ideen haben Sie? Was kann die Schule dafür tun?
  • Gruppe 4: Wir möchten, dass sich etwas ändert in den Kitas und Schulen. Wir möchten auch, dass die Politik weiß, was Eltern und Kinder brauchen. Wir möchten, dass auch die armen Familien gleiche Chancen haben. Wir möchten ein Poster gestalten. Was sollen wir sagen? Welche Themen sollen auf das Poster? Welche Ideen haben Sie?
Wie hat das funktioniert?

Die Fragestellungen boten eine gute Gesprächsanregung, dass alle Teilnehmer*innen ohne Zögern miteinander ins Gespräch kamen und sich in entspannter Atmosphäre kennenlernten. Bei sprachlichen Herausforderungen konnten die teilnehmenden Stadtteilmütter unterstützen. Die Elternbegleiter*innen haben besonders in den Kleingruppendiskussionen unterstützt und dabei sowohl die Moderation als auch die Ergebnissicherung übernommen.

Es fiel uns auf, dass in den Begegnungen nicht nur über die mitgegebenen Fragestellungen, sondern auch über anderes gesprochen und genetzwerkt wurde, wie z.B. über Informationen zu Unterstützungsangeboten. Diese wertvollen Gespräche hatten wir nicht geplant, waren aber dankbar, dass auch die Teilnehmenden schon allein durch diesen Austausch etwas für sich mitnehmen konnten: Es ist wenig überraschend, dass viele Angebote für Familien in Armutslagen unbekannt sind oder die Hemmschwelle, sie anzunehmen, zu groß ist. Da ist eine persönliche Erfahrung oder Empfehlung unglaublich wichtig. Umgekehrt ist dies auch kritisch für das System und die Basisfrage „Was kommt bei Familien eigentlich an?“ zu bewerten: Wenn der Informationsbedarf groß ist und die Wahrscheinlichkeit des Zugangs nur dann deutlich erhöht wird, wenn direkte und persönliche Kontakte eine Rolle spielen, dann haben wir noch eine Menge zu tun. Vor allem müssen beteiligungsorientierte Formate stattfinden, alternative Wege der Ansprache gesucht und genutzt werden, um Menschen den Zugang zu Unterstützung zu ermöglichen – und zwar nicht als Besonderheit, sondern als Regel.

Neue Erkenntnisse?

Einen ganzen Tag lang haben wir miteinander gesprochen und diskutiert. Was haben wir also nun „herausgefunden“? Eine „Zauberformel“ nicht, sondern vor allem dies: Ein Erkenntnisproblem gibt es nicht, sondern ein Umsetzungsproblem. Natürlich unterscheiden sich die individuellen Haltungen voneinander, so wie bei allen Menschen – „arm“ ist keine Eigenschaft. Armut ist ein strukturelles, schwer auszuhaltendes und häufig menschenverachtendes Problem, welches Betroffene lähmen kann und ihrer Selbstbestimmung beraubt. Klingt dramatisch, ist es auch.

„Dass jemand unsere Probleme hört“

Rückmeldungen der Teilnehmenden

Bessere Kommunikation: Eltern würden gerne zu Elternsprachtagen und Elternabenden kommen, die Sprachbarriere ist häufig hinderlich, so dass sie sich als „Problemeltern“ abgestempelt sehen. Es gibt einen großen Wunsch nach vertrauensvoller und positiver Verbindung zu Lehrer*innen mit dem klaren Ziel, die Bildung und die Entwicklung des Kindes positiv zu beeinflussen. Zudem sind sie an Mitsprache und Mitentscheidung sehr interessiert, aber der Weg dahin ist unklar oder scheint aussichtslos.

„Die Hoffnung, an meiner Schule (vom Kind) viel Austausch zu haben & Dinge zu bewegen“

Hilfreich wären hier mehr Personal, Sprachmittler*innen/Dolmetscher*innen, Elternbegleiter*innen, auch Sozialarbeitende, die eine armutssensible und empathische Haltung mitbringen. Auch Kooperationen mit anderen Einrichtungen, wie z.B. Familienzentren wurden genannt.

Mitgefühl und Unterstützung

Gerade im Hinblick auf die schwierige Coronasituation braucht es Nachhilfe und individuelle Lernunterstützung für die Kinder, um Versäumtes aufzuholen. In diesem Feld hat Corona die Schere bei den Chancen für höhere Bildung weiter aufgehen lassen: Die Eltern können das nicht so gut leisten wie andere.

Finanzielle Unterstützung bzw. kostenfreie Angebote in den Bereichen Schulmaterial, Ausflüge, Klassenfahrten, Mittagessen zur Regel machen– überall dort, wo finanzielle Ressourcen einen Unterschied machen.

Das Geld ist knapp, häufig trotz Arbeit, aber die Kinder müssen sich als „arm“ outen. Auch über Schuluniformen wurde gesprochen, Kinder ohne entsprechend moderne Markenkleidung werden auch 2022 stigmatisiert. Manche Eltern machen lieber Schulden als den Kindern diesem sozialen Druck auszusetzen.

Freizeit-/Hobby-AGs am Nachmittag wurden häufig genannt, da sie oft kostspielig sind und den eigenen Kindern nicht ermöglicht werden können.

Entbürokratisierung – Verständliche Informationen und Kommunikation, Hilfe beim Ausfüllen zu Unterstützungsleistungen. Formulare für z.B. Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Transparenz über staatliche Leistungen. Häufig ist es so: Wer sich nicht genau auskennt, hat Pech, wer fragt, wird abgestempelt.

Psychosoziale Unterstützungsangebote, die schwierige Situationen z.B. von Alleinerziehenden respektieren und armutssensibles Handeln gegenüber Eltern und Kindern. Wertschätzung statt Stigmatisierung.

„Dass alle gleicher Meinung sind, wenn es um Bildung und unsere Kinder geht“

Zusammengefasst wünschen sich armutsbetroffene Eltern das gleiche wie alle Eltern: Das Beste für die Kinder und Kommunikation auf Augenhöhe – eine faire Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

  • Gute Bildung und individuelle Förderung- und Entwicklungsmöglichkeiten für die Kinder
  • Ausschluss der Kinder verhindern, kostenfreie Angebote in allen Bereichen, die notwendig sind, um zu gewährleisten, dass Kindern keine schlechteren Chancen haben
  • Mitgefühl, Wertschätzung, Verständnis für Eltern, die wenig finanzielle Ressourcen haben und wenig/kein Deutsch sprechen – entgegenkommende Kommunikation
  • Transparente und verständliche Information und Kommunikation zu finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten
Unser Fazit

Es geht! Und vor allem geht es nicht ohne: Beteiligung. Wir möchten an dieser Stelle alle Fachkräfte ermutigen zum „einfach mal machen“, ausprobieren, transparent mit den eigenen Bedenken sein und dies mit Wertschätzung, echtem Interesse an Menschen und in der Überzeugung von einem guten Leben für alle Berliner*innen zu tun. Uns ist es an dieser Stelle durch die großartige Zusammenarbeit mit den Elternbegleiter*innen und den Stadtteilmüttern gelungen, die uns Zugänge und einen Vertrauensvorschuss ermöglicht haben. Herzlichen Dank!

Was haben wir bei den Teilnehmenden bewirkt?

Unser Gefühl ist, dass allein die direkte Ansprache als Expert*innen ihren eigenen Lebenssituation, viel in Gang gesetzt hat. Offen und wertschätzend, dankbar und interessiert an ihnen und ihre Sorgen und Wünschen zu sein. Zu sagen, wir sehen und wir hören euch, wir möchten uns dafür einsetzen, dass die Situation sich verbessert und eure Stimmen verstärken. Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein wurde sichtbar: So haben sich alle teilnehmenden Frauen im Abschlussplenum in großer Runde geäußert, ein deutliches Zeichen für verstärkte Stimmen! Der Austausch und die Vernetzung untereinander hat sicherlich weitere positive Effekte. Alle würden gerne wieder an weiteren Veranstaltungen teilnehmen und sich einbringen.

Würden wir beim nächsten Mal etwas anders machen?

Sicherlich, aber das scheint uns nicht auschlaggebend zu sein. Unsere wichtigste Erkenntnis ist, dass wir nur weiterkommen, wenn wir ausprobieren und lernen, es geht also fast weniger um das „wie“ als um das „ob“.

Ressourcenschonend würden wir vermutlich bei der nächsten Veranstaltung weniger Augenmerk auf die Forschungsmethode legen und eine weniger komplexe Choreographie bevorzugen – die Menschen in den Austausch bringen und eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen gelingt sicher auch anders.

Wie weiter mit den Ergebnissen?

Einerseits fließen die Erkenntnisse über das Verfahren an sich und über Beteiligungsprozesse in unsere Arbeit mit Fachkräften ein. Andererseits nutzen wir das Wissen um die Situation und Wünsche der Familien in all unseren Gesprächen mit Fach- und Führungskräften, mit politischen Entscheider*innen und machen so leise Stimmen lauter.

Herzlichen Dank an alle Teilnehmer*innen unseres Tags des Austauschs!

Möchten Sie mehr erfahren oder sich zum Thema austauschen? Nehmen Sie gerne Kontakt auf!